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Rezension: Blake & Mortimer – "Das Tal der Unsterblichen (Teil 1)"

1947. Während britische Truppen den Angriff auf Lhasa, Hauptstadt des Gelben Reichs, vorbereiten, verschiffen chinesische Nationalisten auf der Flucht vor den Kommunisten die Schätze des kaiserlichen Palastmuseums nach Taiwan. Dort angekommen, zerbricht eine Kiste, in der sich eine Kassette aus der Zeit der Qin-Dynastie befand. In ihr findet Professor Sun-Yi-Sun ein 2500 Jahre altes Pergament, auf dem ein gewisser Sho beschreibt, wie Shi Huangdi dank der Hilfe des Schmiedes Gong Shou die umliegenden Königreiche besiegen und der erste Kaiser Chinas werden könnte. Leider ist dies nur die erste Hälfte des Texts – die zweite Hälfte konnten Piraten stehlen, die das Pergament in Hongkong verkaufen wollen. Um die Echtheit der Dokumente zu überprüfen, schickt der Professor seinen Mitarbeiter Professor Bao Dong nach London, um sie am dortigen University College zu analysieren.

Gleichzeitig greifen die »Tigersharks« von Professor Mortimer Lhasa an. Doch Colonel Olrik, militärischer Berater des Usurpators Basam-Damdu, überlegt die fürchterliche Attacke und entkommt mithilfe eines »Roten Pfeils«. Jedoch gerät er in die Fänge des Warlords Xi-Li, der kein geringeres Ziel verfolgt, als Chinas Herrscher zu werden. Sein Spion in Taiwan hat ihm von der Existenz der Pergamente mitgeteilt und er glaubt, mit ihnen beweisen zu können, dass er als Nachfahre von Gong Shou der rechtmäßige Thronerbe sei. Um die Pergamente aus Hongkong herausschmuggeln zu können, schickt er Olrik dorthin, der willig zustimmt, als er erfährt, dass auch Mortimer dorthin unterwegs sein wird.

Mortimer trifft parallel in London auf Bao Dong. Dieser erzählt ihm die gesamte Geschichte und überreicht ihm nach mehreren versuchten Attentaten sämtliche Dokumente. Weil Mortimer sowieso nach Hongkong reisen wird, soll er sich dort mit Professor Sun-Yi-Sun treffen. Doch sie ahnen nicht, dass sie dort bereits erwartet werden...

»Das Tal der Unsterblichen Teil 1: Gefahr für Hongkong«, das inzwischen schon achte Blake & Mortimer-Album aus der Feder von Yves Sente, wurde ausnahmsweise mal nicht von André Juillard, sondern von dem neuen Team Teun Berserik und Peter van Dongen zeichnerisch in die Tat umgesetzt. Die beiden liefern – neben vielleicht höchstens René Sterne – die vermutlich schönsten Zeichnungen seit E. P. Jacobs. Ich war zunächst etwas beunruhigt, als ich erfahren habe, dass die kommenden Blake & Mortimer-Alben allesamt von neuen Autoren und Zeichnern gestaltet würden, doch dieser Band überzeugt voll und ganz. Teilweise erinnert die Linienführung sogar an die von Hergé. »Das Tal der Unsterblichen« ist eine wahre Augenweide, ein hervorragendes, wunderschönes Beispiel für Ligne-Claire-Kunst.

Ich wusste ursprünglich nicht, wie die Arbeitsteilung zwischen den beiden Zeichnern aussah. Ich nahm an, es sei ähnlich wie bei Antoine Aubin und Étienne Schréder, dass einer die Figuren zeichnete, während der Andere die Hintergründe übernahm. Wie ich später erfuhr, hat anscheinend van Dongen einige Seiten gezeichnet, während Berserik die restlichen übernahm. Beide schaffen es, ihren Zeichenstil so perfekt aufeinander abzupassen, dass der Übergang gar nicht auffällt. Erst beim zweiten Lesen konnte ich einige minimale Unterschiede im Strich erkennen.

Die Geschichte selbst fügt sich nicht nur an irgendeinen Ort in der »Blake & Mortimer«-Zeitleiste ein, sondern ihr Anfang spielt sogar parallel zum Ende vom legendären ersten B&M-Abenteuer »Der Kampf um die Welt« (frz. »Le Secret de l'Espadon«), das Edgar Pierre Jacobs von 1946 bis 1949 schrieb und zeichnete. Nachdem Yves Sente mit »Der Stab des Plutarch« (frz. »Le Bâton de Plutarque«) bereits ein Prequel zu jener Geschichte lieferte, greift er hier erneut auf diesen Klassiker zu. Ursprünglich war ich deswegen etwas beunruhigt – zwar sind fast alle der neuen B&M-Alben von allerhöchster Qualität, jedoch finde ich es teils etwas übertrieben, wenn neue Autoren von solchen klassischen Serien in ihren Alben (zu) viele Referenzen an alte Alben einbauen. Zwar sind diese immer eine gelungene Überraschung für Kenner der alten Bände, doch teils wirken sie so, als hätte man etwa irgendeine alte Figur wiedergeholt nur um sie einzubauen, nicht etwa, weil es der Geschichte nützt. In diesem Falle hat Sente jedoch alles richtig gemacht. Die neue Erzählung ist perfekt mit der alten verwoben, ohne jedoch zu sehr auf sie angewiesen zu sein. Dies ist eine völlig neue Geschichte, die lediglich an Jacobs' Comic anschließt (oder parallel zu ihm spielt). So sind einzelne Panels auch originalgetreu wiedergegeben, wie etwa das erste auf Seite 19, das nahezu exakt dem letzten der ursprünglichen Erzählung entspricht. Jedoch würde ich mir für zukünftige Bände wünschen, dass man sich nicht mehr allzu stark auf Jacobs' Werk ausruht, sondern völlig neue, eigene Inhalte kreiert. Jeder neue Band soll das B&M-Universum erweitern und nicht nur alte Dinge wiederholen. Da sei es auch positiv zu vermerken, dass Olrik zwar vorkommt, nicht aber wie so oft der alleinige Schurke ist, sondern der Helfer eines neuen Gegners.

Comic-Liebhaber werden mit den Details dieser Geschichte ihren Spaß haben. Die Verwobenheit mit dem »Kampf um die Welt« dahingestellt, finden sich hier darüber hinaus zahlreiche versteckte Anspielungen an andere Comics. Etwa stellt Olrik nach der Zerstörung Lhasas fest, dass Basam-Damdu völlig verschwunden sei... so als ob er sich in Luft aufgelöst hätte! Die Erklärung dafür findet sich in dem Album »Unheimliche Begegnung« (frz. »L'Étrange Rendez-Vous«) von Jean van Hamme und Ted Benoît. Und im Peninsula-Hotel in Hongkong trifft Mortimer auf einen gewissen Gibbons, der seine Metallfabrik in Schanghai aufgeben musste, als die Briten die Stadt an China zurückgegeben haben. Kenner werden ihn aus dem Tim & Struppi-Klassiker »Der blaue Lotos« (frz. »Le Lotus Bleu«) von Hergé wiedererkennen.

Die Erzählung ist spannend bis zur letzten Seite. Während die erste Hälfte benötigt wird, um den Leser mit der Geschichte Gong Shous und den verschiedenen Charakteren und Bösewichten bekannt zu machen, ist die zweite Hälfte, die in Hongkong spielt, deutlich actiongeladener. Zwar könnte man dann denken, dass der Auftakt eventuell ein wenig zu langsam ist, jedoch ist jede einzelne Seite notwendig, um diese Geschichte zu erzählen, und in keinster Weise langweilig. Es handelt sich hierbei schließlich auch um eine lange, auf zwei Bände ausgelegte Erzählung. Und so viel Platz ist auch definitiv nötig. Anstatt dass gegen Ende hin Antworten gefunden werden, werden immer wieder neue Fragen aufgeworfen. Wir können nur hoffen, dass der zweite Teil ähnlich detailgeladen sein wird.

Das Einzige, was mich nicht überzeugt, ist die Szene auf Seite 32 (Ich habe ohnehin schon zu viel vom Inhalt verraten, also sei das jetzt mal so dahingestellt!). Die Ligne Claire hat leider auch die Eigenschaft, dass die Zeichnungen etwas steif, nicht sonderlich dynamisch wirken; das hilft dieser Szene, die generell so wirkt, als hätte man keine bessere Lösung gefunden, auch nicht gerade.

Wie in vielen Blake & Mortimer-Bänden (»Das Geheimnis der großen Pyramide (1)«, »Die teuflische Falle« etc.) ist auch hier Mortimer der eigentliche Star, während Blake lediglich eine unterstützende Rolle spielt. Mich persönlich stört das nicht (Ich mag Mortimer eh lieber!) und wir können so oder so davon ausgehen, dass Blake im zweiten Teil eine größere Rolle spielen wird, was aus dem Cliffhanger auch schon ein wenig hervorgeht...

Was angemerkt werden muss, ist dass die Ansichtsweise natürlich ein wenig veraltet ist. Klar, die Geschichte spielt 1947, also passt es genau in die Zeit, jedoch sollte man solch einen kolonialistischen Ton vielleicht nicht einfach nur so dahinstellen. An den grundsätzlichen patriotischen Ton der Reihe habe ich mich ohnehin schon lange gewöhnt, wobei ich mir auch nicht ganz sicher bin, ob er so bitter nötig ist.

Unabhängig davon ist dies vermutlich einer der überzeugendsten der modernen Blake & Mortimer-Alben – neben der »Voronov-Intrige« und dem »Gelübde der fünf Lords« definitiv Sentes stärkstes Szenario. Der Klappentext wirkte auf mich erst ein wenig erbärmlich – »Dieses Album dürfte auch den anspruchsvollsten Fans der Serie gefallen« (Was ja aber durchaus verständlich ist, da die letzten paar Alben nicht gerade die stärksten waren), doch hatte er recht. Alles ist drin, was einen Blake & Mortimer gut macht: Eine sehr gut konstruierte, komplizierte Geschichte, ein, wenn auch fiktiver, historischer Kontext, etwas Science-Fiction, exotische Szenerien und wunderschöne Zeichnungen. Die Autoren haben einen hohen Standard gesetzt – ich bin gespannt, ob die Auflösung der Geschichte im zweiten Teil »Der tausendste Arm des Mekong« an den ersten Teil herankommt.